social distance - ein Perspektivwechsel

Tag 74 - Portugal: Ein Blick vom Balkon sagt mir, dass heute irgendetwas anders ist, irgendetwas nicht stimmt, denn auf der Baustelle wird nicht gearbeitet. Sonntag ist jedenfalls noch nicht, denn ich wollte heute meinen leeren Kühlschrank auffüllen. Fast im gleichen Augenblick brummt mein Handy. Ich habe einen Gruß zum 1. Mai bekommen. Irgendwie verliert man hier Zeit und Raum. 

Das Verkehrszeichen 274 gibt in Deutschland Auskunft über die jeweils zulässige Höchstgeschwindigkeit. Das bedeutet, dass man zwar langsamer fahren kann, aber nicht schneller als angegeben fahren darf. Eigentlich dürfte das mit Sicherheit jedem klar sein. Wie verhält es sich aber umgekehrt oder anders ausgedrückt, wie sieht es aus, wenn ich einen Mindestabstand einhalten muss. Natürlich kann man nicht sagen weniger als … sei erlaubt, sondern nur mehr. Aber muss man das auch?

"Social distance", vielleicht sogar das Wort des Jahres 2020, lässt sich am besten mit "Soziale Nähe" übersetzen und wird für manchem damit schon zum Problem. "Er/Sie kennt keine Distanz", hat jeder schon mal gehört, können manche sicher auch ein Beispiel für geben. Um aber beim Mindestabstand zubleiben, darf man sich schon fragen, warum es Menschen gibt, die meinen einem ganz besonders auf die "Pelle" rücken zu müssen, zum Beispiel im Discounterkassenbereich, wenn einem zum dritten Mal ein Einkaufswagen in die Hacken fährt. Der Mindestabstand in Corona-Zeiten bedeutet nicht, dass man zusehen sollte so nahe wie möglich an den Mindestabstand heranzukommen, sondern nur wie weit man sich maximal nähern darf. Es darf also auch gerne, dem zur Verfügung stehenden Raum und der Situation entsprechend, ein größerer Abstand eingehalten werden.

Obwohl heute also Feiertag ist, sind an diesem wolkenlosen Tag nur eine Handvoll Menschen am Strand. Und das ist eigentlich noch übertrieben. Ich gehe am Strand spazieren, was soll man auch anderes machen, und sehe einige hundert Meter vor mir ein Pärchen, das mit ihrem Hund spielt. Zwischen uns nicht eine Menschenseele. Diese unglaubliche Leere an einem riesigen Strand wird in normalen Zeiten vermutlich nicht einmal im Winter erreicht.

Vor einigen Tagen hatte ich ungefähr auf der Hälfte ein nettes Plätzchen gefunden. Dieser Bereich war erneut mein Ziel, obwohl ich beim ersten Mal etwas genervt war von dem einen oder anderen, der meinte durch die Dünen spazieren zu müssen und nicht wie die wenigen anderen am Wasser entlang. Als ich zu spüren begonnen hatte, dass meine Haut Schatten besser vertragen könnte als weiterhin Sonne, ich hatte keinen Sonnenschutz dabei, hatte ich einen Mann bemerkt, der parallel zum Strand dicht an der Dünenkante entlang ging, dann wenige Meter von mir entfernt stehen blieb und sich die Gegend ansah. Dann hatte er sich umgedreht, ging anschließend keine hundert Meter wieder zurück, blieb stehen und blickte erneut aufs Meer. Ich hatte meine Sachen bereits gepackt und schlenderte zum Wasser hinunter und dann weiter zurück Richtung Appartement. Ein Gedanke, dass mit dem Mann etwas nicht "stimmen" könnte ließ mich zurückblicken. Er hatte abermals seine Richtung geändert und stand ungefähr dort, wo ich zuvor gelegen hatte und blickte mir scheinbar hinterher.

Ich legte mich am heutigen Tag erneut in die Dünen, etwas weiter weg als beim letzten Mal, das Pärchen mit Hund in Sichtweite hatte angefangen Beachtennis zu spielen. Eine ausreichende Rundumsicht war gewährleistet. Ich fühlte mich wie auf einer Burg. Nicht wirklich uneinnehmbar, aber vor allem fast uneinsehbar. Ich zog mein Adamskostüm an und legte mich in die Sonne. 

Nach einiger Zeit suchte ich die Wasserflasche in meinem Rucksack und bemerkte den selben Mann wie er scheinbar suchend an meiner "Deckung" vorbeiging, in der ich selbst gut, aber nicht unbedingt alles von mir zu erkennen war. Nachdem er nur wenige Meter von mir entfernt stehen geblieben war drehte er sich um, schlenderte abermals an mir vorbei und ließ sich dann keine 20 Meter von mir entfernt nieder. War der Strand nicht groß genug? 

Mir erzählte einmal eine Frau, dass sie sich an einem relativ leeren Strand liegend belagert fühlte, weil ein Mann in unmittelbarer Nähe sein Handtuch auszubreiten begann und damit den für sie noch akzeptablen Abstand unterschritt.

Natürlich begannen bei mir kleine Alarmglöckchen zu klingeln, zu schrillen begannen sie, als er, ebenfalls im Adamskostüm, plötzlich keine 10 Meter neben mir deckungslos stehend aufs Meer blickte. Ein entspannter Nachmittag sollte eigentlich anders aussehen. Aus den Augenwinkeln sah ich dann, wie er näher kam, kurz stehen blieb, dann keine 3 Meter von mir entfernt hinterrücks an mir "vorbeiwedelte", nach wenigen Metern stehen blieb und erneut aufs Meer blickte. Als er nach kurzer Zeit wieder zu seinem Liegeplatz zurückgegangen und dort in der Versenkung verschwunden war, begann ich mich zu entspannen. Das ganze hatte etwas von einem Catwalk. Eigentlich fehlte nur das Kreisen seiner Hüften. Oder hatte ich es aus den Augenwinkeln übersehen? Er muss seinen Platz dann von mir unbemerkt verlassen haben, denn als ich etwa eine Stunde später meine Rückweg antrat, stand er bekleidet etwas abseits auf einer Anhöhe in der Nähe und blickte zu mir herüber.

In dieser Situation war es mir leider nicht möglich Fotos zu schießen, daher muss das Foto vom Strand oben ausreichen, um sich vor dem eigenen Auge ein Bild machen zu können. Manchmal ist es auch besser, wenn man kein Foto hat. Man muss nicht immer alles sehen.

Tags: Portugal