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Tag 216 ff - Norwegen: Sollte ich nach meiner Reise einen Lieblingsort benennen müssen, käme ich um Norwegen nicht herum. Es muss nicht immer die große weite Welt sein, um ein eindrucksvolles Land kennenzulernen. Meine Vorstellung, dass mich mit Norwegen etwas Außerordentliches erwarten würde sind voll und ganz erfüllt worden.

Vom Nigardsbreen kommend biege ich in Sogndal auf die RV 5 ab, durchfahre einen 7 km langen Tunnel und habe, draußen wieder angekommen, das Gefühl noch einmal im Sommer anzukommen zu sein. Die Wolken bleiben zurück, der Himmel ist strahlend blau, die Sonne scheint und die Temperaturen klettern auf 20 Grad. Am Ende der RV 5 setzte ich mit der Fähre über und weiter geht es auf der RV 16 nach Borgund wo ich von außen die um 1200 n. Chr. erbaute Stabkirche besichtige.

Auf dem Rückweg umfahre ich einen Tunnel auf einer als historisch ausgeschilderten ehemaligen, am Fluss entlangführenden Straße. An verschiedenen Stellen warnen Hinweisschilder vor überhängenden Felsen und sind alte Hängebrücken zu sehen, verlaufen stark beschädigte Hängebrücken auch auf der gegenüber liegenden Seite entlang des Flusses. Ich bekomme einen Eindruck, wie die Menschen hier noch vor einigen Jahren unterwegs gewesen sein müssen.

Ich entschließe mich nicht mehr weiterzufahren, sondern in einem Motel im nahen Særdalsøyri zu übernachten, was sich als eine gute Entscheidung herausstellen wird, denn bei Særdalsøyri beginnt der mit 24,5 Kilometer längste Tunnel der Welt. Mein Ziel ist aber nicht der Tunnel, sondern die insgesamt etwa 45 km lange Passstraße.

Liegt es an der Jahreszeit oder daran, dass die Menschen immer nur schnell von A nach B wollen, denn auf der Straße ist so gut wie nichts los. Wieder einmal befahre ich eine Straße so ganz nach meinem Geschmack. Es geht langsam immer weiter bergauf, an den Berghängen zur Rechten und zur Linken sind die Bäume jetzt in voller Herbsttracht. Unterhalb der Straße meistens in Sichtweite ein Gebirgsbach.

Dann die ersten Kehren und der Blick auf einen teilweise von Bäumen verdeckten imposanten Wasserfall. Ich fahre ein kleines Stück weiter um wenden zu können und halte dann an einer kleinen Haltebucht in der schon ein Pkw mit norwegischem Kennzeichen steht. Ich gehe über einen kleinen Trampelpfad den kurzen Abhang hinunter, ein Stück an dem vom Wasserfall kommenden Bach entlang und erreiche eine kleine Holzbrücke, die einen weiteren, von einem anderen Wasserfall kommenden Bach überquert. Auf der anderen Seite der kleinen Brücke angekommen stehe ich quasi im Dreieck der beiden zusammenfließenden Gebirgsbäche, als ein junger Mann zwischen den Bäumen auf mich zukommt.

Er heißt Jalal, wie sich bald herausstellt, kommt aus Hamburg, hat seine Wurzeln aber in Aserbaidschan und ist, genau wie ich, zum ersten Mal in seinem Leben allein unterwegs. Da treffen sich mitten im Unterholz zwei Männer unterschiedlicher Generation, aber mit ähnlichen Ambitionen eine Reise allein machend, an der Stelle, wo zwei Bäche aus unterschiedlichen Richtungen zusammentreffen, tauschen sich fast eine Stunde aus und gehen dann, über die Brücke jeder in seine Richtung. Dass Jalal aus Aserbaidschan stammt schließt außerdem für mich ein klein wenig die Lücke zum Kaukasus, den ich Corona bedingt nicht mehr erreichen konnte.

Natürlich könnte es auch so sein, dass ich vielleicht einfach nur schon zu lange allein unterwegs bin und zu viel in manche Dinge hinein interpretiere. Trotzdem frage ich mich, warum ich gerade dort, mitten im Unterholz, an einer Stelle wo sich zwei Flüsse treffen, diesen jungen Mann getroffen habe. Das Auto hätte auch dem Pächter des angrenzenden Grundstücks gehören können.

Nach einigen Kehren und stetig ansteigender Straße lasse ich die Bäume bald hinter mir, wechselt die Vegetation und mein Blick verläuft sich ungehindert über ein Meer aus einer unglaublichen Palette an Herbstfarben in der Weite der Berge. Und dann wieder einige Meter höher, auf etwa 1300 Meter, verschwinden auch diese Farben und es bleibt eine Mischung aus Grün- und Grautönen des vermoosten, leicht hügeligen Gerölls. Vereinzelt unterschiedlich große Altschneeflächen in geschützten Senken und kleinere Schmelzwasserseen geben dem Ganzen ein Gefühl von Unwirtlichkeit. Und über allem ein diesiger Himmel.

In dieser Höhe fahre ich eine geraume Zeit wie durch eine andere Welt, bis hinter einer Kurve die Straße wieder abschüssig zu werden beginnt, um schon bald wieder, anfangs noch in langgezogenen, dann aber in immer enger werdenden Kurven talwärts zu führen. Bevor die Straße dann aber zu einer Serpentine übergeht halte ich am Stegastein an, einer weit über den Abgrund reichenden Aussichtsplattform, von der man einen genialen Blick auf den weit unter einem liegenden Aurlandsfjord und den Ort Aurland selbst hat.

Nachdem ich mich Kurve um  Kurve wieder auf Fjordniveau heruntergearbeitet habe, muss ich doch wenigstens noch einmal ein paar Kilometer im längsten Tunnel der Welt gefahren sein. Nach etwa sechs Kilometer kommt ein in dieser Größe nicht erwarteter, zuvor schon durch blaues Licht angekündigter und dann in buntem Licht ausgeleuchteter, zu beiden Seiten gelegener Rastplatz. Bei Asterix und Obelix hätte man gesagt "Die spinnen, die Römer". Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte eigentlich einen ausgeleuchteten Kreisverkehr erwartet. 

In Flåm besichtigte ich das im alten Bahnhof untergebrachte Flåm-Bahn-Museum, fahre aber nicht mit der Bahn selbst, da ich das bereits vor einigen Jahren mal gemacht hatte.

Es ist nicht so, dass ich in Norwegen keine Wasserfälle gesehen habe. Gerade in der regenstarken Phase waren es derer unglaublich viele, aber es gibt Wasserfälle, die sollen das ganze Jahr über imposant oder zumindest sehenswert sein und die sollten bald kommen. Zuvor aber lagen zwei Punkte mehr oder weniger am Wegesrand, die ich mir nicht entgehen lassen wollte, den Näroyfjord, einer der engsten und angeblich eindrucksvollsten Fjorde Norwegens und UNESCO-Welterbe. Bis auf 200 m sollen sich die etwa 1000m hohen Felswände nähern. Mit Booten könne man sich das von Gudvangen aus am besten ansehen, da es keine Straße dorthin gäbe. Boote fahren, jetzt Ende September leider nicht mehr, aber eine Straße gibt es ab Gudvangen dann doch und die nehme ich auch. Schmal, um nicht zu sagen eng geht es entlang des Fjords, werde ich kurzfristig von einigen Schafen und dann einige Meter weiter von mehreren Ziegen aufgehalten. Nach knapp 5 km ist die Straße zu Ende. Mein Navi zeigt mir zwar an, dass es auf dem Wasser weitergehe, aber dort stehen Zäune und Schilder mit dem Hinweis "Privat", also drehe ich um. Ich würde sagen, dass es nur etwas mehr als 200 Meter und die Felsen ziemlich hoch waren. Alles in allem ein beschauliches, abgeschiedenes Fleckchen Erde. Der einen oder anderen neueren Parkbucht allerdings nach zu urteilen mit Sicherheit auch kein Geheimtipp mehr.

Das zweite was ich unbedingt an- bzw. befahren will ist wenige Kilometer weiter bei Stalheim zu finden. Die Stalheimskleiva, eine alte, durch eine Schlucht führende Straße mit 13 Haarnadelkurven und 20% Gefälle. Das spannende daran ist, das die Straße für Gespanne und Wohnmobile nicht geeignet und damit gesperrt sein soll und außerdem ein flaues Gefühl im Magen beim Ausblick in die Tiefe und auf einen mehr als 100m hohen Wasserfall garantiert sein soll. Als ich in Stalheim ankomme, ist die Straße durch einen heruntergelassenen Schlagbaum leider auch für mich gesperrt. Ich sehe aber das lange, steil abwärtsführende und regennasse größere Anfangsstück der Straße und ich gestehe, dass es mir Respekt einflößt. 

Tvindefossen

Auf meiner weiteren Fahrt auf der RV 13 komme ich dann durch den Vallaviktunnel und dort durchfahre ich dann tatsächlich noch zwei große, blau beleuchtete Kreisverkehre und überquere wenig später, unmittelbar nach verlassen des Tunnels eine megamäßige Brückenkonstruktion.

Ein paar Kilometer weiter finde ich in Eidfjord ein Appartement mit Balkon und Blick auf und direkt am Fjord und lasse den Tag bei nur leicht bewölktem Himmel und einem Bierchen in der Hand langsam ausklingen.

Ich bleibe eine Nacht länger in Eidfjorden, denn es wurde mal wieder Zeit fürs Durchatmen, Das Wetter ist eher gemischt, etwa herbstliches Nordseewetter, tief hängende Wolken und gelegentlich etwas Regen. Ich setze mich dennoch aufs Motorrad, aber nur um dem knapp 40 km nahen Hardangervidda (Hardanger Bergplateau), einem der größten Gletscher Norwegens, einen Besuch abzustatten und mir dort etwas die Beine zu vertreten. Vorbei komme ich dabei am Vøringsfoss, mit über 180 Meter einer der spektakulärsten Wasserfälle Norwegens, parke auf dem ersten Parkplatz, steige unzählige Stufen einer Stahlkonstruktion hoch und hangele mich zum Schluss noch gefühlt 200 Meter an einem nahe dem Abgrund entlangführenden Geländer nach oben. Oben befindet sich ein Hotel und man hätte auch direkt dort hin fahren können, hätte, aber einen genialen Blick auf den Wasserfall habe ich trotzdem.

Mittlerweile werden die Wolken wieder dichter und je höher ich auf meinem weiteren Weg zum Eingang des Nationalparks Hardangervidda bei Dyranut komme, desto dicker wird die Suppe. Zum Schluss beträgt die Sichtweite vielleicht gerade noch 50 Meter. Ich trinke im Restaurant einen Kaffee und fahre zurück. Vielleicht versuche ich es Morgen noch einmal.

Mein Freund und Norwegenberater Hans gibt mir derweil per Whatsapp den Tipp bei Schietwetter das Sima-Kraftwerk bei Eidfjord zu besichtigen. Mir sagt das nichts und ich recherchiere, dass es sich um das zweitgrößte Kraftwerk Norwegens handelt und finde Informationen über die Möglichkeit einer Besichtigung. Bevor ich aber dort ankomme durchfahre ich wie schon auf dem Hinweg eine unglaubliche 4er-Tunnelkombination und Konstruktion von insgesamt ca. 5,5 km Länge. In der Draufsicht sieht das Gesamtstück aus, als handele es sich um einen leicht verzwirbeltes Stück Bindfaden. Nicht nur, dass man Andernorts in Felsen gehauene Rastplätze und Kreisverkehre großzügig beleuchtet, hat man hier an der Beleuchtung offenbar gespart schlängelt sich die gesamte Kombination in engen, schlecht ein- und sehbaren Kurven durch den Fels und ich bin erstmals froh einen Sattelschlepper vor mir zu haben, der mir gefühlt die Straße frei hält, komme ich mir im Dalbergtunnel genannten Teil plötzlich vor wie in einem Parkhaus, in dem es spiralförmig zur nächsten Etage geht.

Als ich am Kraftwerk ankomme erfahre ich von einem Mitarbeiter, dass Besichtigungen vor etwa 4-5 Jahren wegen Terrorgefahr eingestellt worden seien. Macht nichts, denn ich hatte ein Hinweisschild gesehen, dass mich neugierig macht, weil eine Bergstraße nur zur vollen Stunden hinauf und zur halben Stunde wieder bergab befahren werden darf. Bei "Kjeålsen" soll es sich laut Internet um einen in 550 Meter Höhe gelegenen Bergbauernhof handeln, von dem man sich nicht zu viel versprechen, aber einen umwerfenden Blick auf den Eidfjord haben soll und nur schwerlich über eine steile Straße und einen dunklen Tunnel zu erreichen sei. Passt, der "Zeiger" steht senkrecht. Die Straße ist nicht sonderlich steil, an manchen Stellen vielleicht etwas schmal und der 2,5 km lange Tunnel mit einem Höhenunterschied von ca. 280 Meter ist nichts besonderes. Trotz einer geringen Beleuchtung fühle ich mich sicherer als in der Schlangenkombination kurz zuvor. Hinter dem Tunnel ein kleiner Parkplatz und nach einem etwa 100 Meter langen Fußweg stehe ich am Bauernhof. Gleich müsste der Alm-Öhi um die Ecke kommen, tut er aber nicht. Für den Ausblick hat sich der Weg gelohnt, aber leben möchte ich hier nicht.

Heute war wieder ein Tag der Wasserfälle, der besonderen und bekannten und der unzähligen, es war mal wieder feucht. Bis Odda fahre ich die ganze Zeit am südlichen Ufer des Hardangerfjord entlang und bin überrascht hier an den Hängen Obstbaumpantagen zu sehen. Wenig später komme ich zum Løtefoss, einem ca. 165 Meter hohen Wasserfall, der in einer Doppelkaskade und beeindruckender Gischt direkt neben der RV 13 den Berg herunterrauscht. Etwas weiter die Straße rauf befindet sich auf der anderen Seite ein weiterer Wasserfall und auch von dort weht der Wind Gischtschwaden über die Fahrbahn. Im Gegenlicht der in diesem Augenblick sich kurz zeigenden Sonne hat die ganze Szenerie etwas Mystisches. Oben am Berg zeigt sich für wenige Minuten sogar etwas blauer Himmel und ich fotografiere drauf los. Keine 10 Minuten später ist alles wieder im tristen Regengrau eingehüllt.

Über Røldal verlasse ich die in südliche Richtung weiterführende RV 13 und fahre auf der 135 weiter in Richtung Osten bis auf eine Höhe von etwa 1100 Meter. Bäume wachsen hier nicht mehr und handelt es sich bei der Vegetation eher um Moose und Bodendecker. So könnte die Hardangervidda aussehen, die ich gestern wegen dichter Wolken nur eher schemenhaft wahrnehmen konnte. Es sieht so ähnlich aus wie neben der Passstraße, die ich anstelle des längsten Tunnel der Welt gefahren war. Dann eine Baustelle und 15 Minuten warten. Ein neuer Tunnel wird gebaut. Die beiden jungen Frauen in ihrer gelben Warnkleidung hier oben in offenem Gelände bei böigen Winden, Regen und 5 Grad sind nicht zu beneiden. Dann erscheint ein Führungsfahrzeug und die ganze wartende Kohorte setzt sich hinter dem Fahrzeug in Bewegung. Wir fahren auf einer einspurigen Straße um den Berg herum und durch weite Teile eines Plateaus. Nach 7 Kilometern darf jeder wieder allein weiterfahren.

Auf gleicher Höhe fahre ich weiter durch eine baumlose weitläufige Landschaft. Von Fjorden weit und breit nichts zu sehen, dafür größere und kleinere Seen. Ich wäre gerne mit mehr Muße hier langgefahren, aber heute ist gefühlt der kälteste Tag seit ich in Norwegen bin, obwohl die Anzeige mittlerweile wieder 9 Grad anzeigt. Ich möchte nur noch irgendwo ankommen. Wenige Kilometer vor Ryystad, etwa 130 km Luftlinie oberhalb von Mandal, Norwegens südlichster Stadt, miete ich auf einem Campingplatz eine Hütte.

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