Ewiges Eis

Tag 214ff - Norwegen: Kristiansund ist nun nicht gerade die Stadt in der man unbedingt eine Nacht länger bleiben müsste, außer es regnet Bindefäden und man will dann nicht raus.

Auch die Wetter-App hat kein Einsehen mit mir und so frage ich an der Rezeption nach entsprechenden Möglichkeiten. Überraschender Weise hat die freundliche Dame eine andere Information für mich, denn sie ist der Meinung, dass es ab Mittag schön werden soll. Tatsächlich hört es fast Punkt 12 auf zu regnen und kommt die Sonne langsam zum Vorschein. Die Sachen sind schnell gepackt und dann sitze ich auf dem Motorrad Richtung Kreisstraße 64, der Atlantikroute. Die Atlantikroute bei Regen zu befahren hätte ich nicht machen wollen und daher war mir der Gedanke mit der Verlängerung um eine Nacht gekommen. Nun aber ist die Fahrbahn schnell trocken und immer mal wieder schaut sie durch, die so sehr Vermisste.

Ich weiß nicht, ob man die Norweger die Meister der Tunnel und Brücken nennen kann, aber es ist immer wieder erstaunlich was die Ingenieure da zustande bringen. Die Atlantikroute, bzw. das eigentlich sehenswerte etwa 7 km lange Teilstück mit der hohen geschwungenen Brücke, überquert mehrere kleine Inseln und ist eine nicht unerhebliche Abkürzung, um zum Beispiel von Kristiansund die an der Küste liegenden Städte Fahrstad, Hustad und Bud zu erreichen. Je nachdem mit welchem Blickwinkel man auf die Brücke blickt sieht sie aus als handele es sich um eine Sprungschanze oder höre sie im Scheitelpunkt einfach auf. Es ist windig aber nicht stürmisch als ich über die Brücke fahre. Die hohen Wellen die gegen die Brückenpfeiler schlagen haben Atlantik Charakter mit entsprechend langer Dünung. Vom Scheitelpunkt der Brücke habe ich einen tollen Blick auf die umliegende Küste. Anhalten und fotografieren darf man vermutlich nicht oder sollte man besser lassen, deshalb muss ich schnell gucken oder nochmal fahren. Ich mache beides. 

Eigentlich möchte ich nach Andalsnes, da dort wenige Kilometer weiter die so genannten "Trollstiegen", eine sehens- und erlebniswerte Serpentine beginnt. Nachdem ich die Atlantikroute dann dreimal gefahren bin, entscheide ich mich aber nicht für den kürzesten Weg nach Andalsnes sondern für die ebenfalls als sehenswert beschilderte Strecke nach Bud. Das heißt dann aber auch, dass ich nicht mehr bis nach Andalsnes komme. Ein paar Kilometer vorher finde ich einen noch geöffneten Campingplatz, denn nach Trondheim, Røros und Kristiansund ist mal wieder "low budget" angesagt.

Der Campingplatz liegt auf dem Weg nach Eidsbygda auf einer sehr kleinen Halbinsel nur wenige Meter von der FV 64 entfernt. Der Platz ist um diese Zeit relativ gut besucht, was sicher auch an der Möglichkeit liegt, dass man hier direkt vom Bootsanleger aus Angeln kann. Drei kleine Angelboote mit Außenborder kommen zurück. Dick eingepackt steigen die Angler aus. Ob sie etwas gefangen haben kann ich nicht sagen, aber eine der beiden einzigen, vom Bootssteg aus angelnden Frauen, hat jedenfalls Glück und zieht einen kapitalen Kabeljau aus dem Wasser. Die zweite hat erkennbar Schwierigkeiten den Fang am Enterhaken hängend vor sich her zur Hütte zu tragen. Am nächsten Morgen erfahre ich, dass der Fang 3,8 Kilogramm gewogen habe.

Mit wenigen Wolken am Himmel ist gestern der Tag zu Ende gegangen und mit wenigen beginnt ein neuer. Die Temperaturen liegen um 8 Uhr bei immerhin 8 Grad und sollen, bei guten Wetteraussichten, noch etwas steigen. Vielleicht sollte es mal wieder so sein, denn neben dem Trollstiegen soll es heute über Geiranger zum Dalsnibba gehen und die Wetter-App verspricht, im Gegensatz für morgen, dafür relativ gutes Wetter. Als ich vor ein paar Jahren einmal mit einem Kreuzfahrschiff erste Berührungen mit Norwegen hatte, bin ich mit drei Anderen und weil es deutlich billiger war als per gebuchter Tour vom Schiff aus, mit einem Taxi auf den Dalsnibba gefahren. Vom Geirangerfjord hatte ich dann aber nichts gesehen, weil die tiefhängenden Regenwolken eine Sicht nur bis zum Parkplatzende zuließen. Um es gleich vorwegzunehmen, es wurde ein hammergeiler Tag.

Die Sonne ist schon lange aufgegangen, aber es dauert bis sie über den Bergen erscheint und das Tal mit warmen Licht erfüllt. Ich sehe aus dem Fenster und sehe dunkle Wolken, nur diesmal ist das nicht die Richtung in die ich fahren werde, sondern entgegengesetzt und da offenbart sich mir ein strahlend blauer Himmel. Wenige kleinen Wolken hängen an den Bergspitzen. Ab Molde und dann bis Andalsnes fahre ich die etwa 50 km fast ausschließlich am Wasser entlang. Tief hängen dünne Wolkenfelder oder ist es Nebel, über dem Wasser. Oberhalb davon zeichnen sich im Gegenlicht Häuser und Ortschaften ab und sind die Berge zu sehen. Streckenweise durchfahre ich Nebelschwaden, sind einige Teile der Berghänge noch in Schatten gehüllt, erstrahlen andere wiederum in herbstlichen Tönen im Sonnenlicht.

Die Trollstiegen liegen im Schatten und langsam schraubt sich die Serpentine bis in eine Höhe von über 850 Meter immer weiter nach oben, überquert dabei einem Wasserfall und bietet unglaubliche Weitsichten. Am Pass angekommen liegt alles in herbstlichem Sonnenlicht. Neben einem großen Parkplatz befindet sich ein modernes Gebäude mit Restaurant und Souvenirläden, die allerdings saisonbedingt nicht mehr geöffnet haben. Von dort gehe ich an Wasserkaskaden vorbei über Stege bis an die Abbruchkante, gelange zum 2012 erbauten "Trollstiegen Skywalk" und habe einen ungehinderten, sensationellen Blick auf das Tal und die Straße die ich gerade gefahren war. 

Langsam geht es dann auf nur mäßig kurviger Straße wieder Richtung Meeresspiegel. Eine Fähre erreiche ich diesmal pünktlich, was aber auch nicht besonders schwer ist, da alle 20 Minuten eine kommt.

Nachdem es auf der anderen Seite eine Zeit lang bergauf geht, erwartet mich kurz vor Geiranger die nächste nach unten zum Ort führende Serpentine und eine weitere, nachdem ich den Ort durchfahren habe, bringt mich wieder dem Himmel ein Stück näher.

Bevor man aber dort oben ankommen darf, muss man eine Maut entrichten. PKWs und Motorräder zahlen 200 NOK, das sind etwa 18,50 Euro. Danach geht es abermals über eine Serpentine bis auf 1500 Meter Höhe. Das dortige Restaurant wird gerade umgebaut, was aber den unbeschreiblichen Blick ins Tal natürlich in keinster Weise beeinträchtigt. Was habe ich für ein Glück. Vor Jahren nur eine Regenwand und jetzt überall nur strahlend blauer Himmel.

Neben meinem Motorrad steht ein kleines Ungetüm von Offroad Wohnmobil, der neueren Generation. Die Außenwände sind reich bebildert und man sieht sofort, dass es den beiden Weltenbummlern Tanja und Denis Katzer gehört, die seit über 30 Jahren die Welt bereisen und von denen ich bei meinen Planungen für meine Tour im Internet gelesen hatte. Nach einem kleinen Plausch fahren wir, wieder an der Mautstelle angekommen, in unterschiedliche Richtungen davon. 

Dann war das gestern wohl nur mal eine Zwischenaufheiterung, sowohl für mich als auch wettertechnisch. Dichte Wolken berühren fast das Wasser der Fjorde. Die Straße ist feucht und gelegentlich nieselt es anfangs noch, werden die Straßen aber bald trockener. Gestern Abend sah ich in Norwegen zum ersten Mal einen wolkenlosen Sternenhimmel und dann heute morgen dieses Kontrastprogramm. Überhaupt war gestern ein ziemlich geiler Tag, der dann mit der Unterkunft, der bis dahin in Norwegen besten überhaupt, endete. 

Ich bin auf dem Weg zum Gletscher "Brikdalsbreen". Wenige Kilometer vorher sehe ich am Straßenrand einen alten ausrangierten Doppeldecker Bus. "Glacier Sightseeing" steht an der Seite. Dass es ein Vorzeichen sein könnte ahne ich in dem Augenblick, als ich ihn eigentlich sehen müsste, aber fast nichts zu erkennen ist, einerseits weil Wolken ihn zum Teil verhüllen, andererseits aber auch weil er schlichtweg fast nicht mehr vorhanden ist. In den ganz wenigen etwas helleren Himmelsmomenten sieht man ganz oben noch eine Abbruchkante. Das ist alles, aber dafür war der Weg dorthin wunderschön, war das Wasser des Sees von einer unglaublich grünen Intensität.

Ich schaffe es dann bei wieder einsetzendem Regen nur bis Sogndal. Für morgen verspricht die Wetter-App nichts Gutes und ich beginne zu überlegen, ob ich morgen anstatt zum Gletscher "Nigardsbreen" zu fahren, mal ein Museum besuchen oder gleich Richtung Heimat durchstarten sollte. Im Augenblick aber sitze ich am Hafen von Sogndal in einer, zu einem in der Nähe befindlichem Hostel gehörendem, urigen Lokation. Im Lokal unterschiedliche gebrauchte Sitzmöbel an unterschiedlichen Tischen, umgeben von Regalen mit gebrauchten Büchern und Gesellschaftsspielen. Die anderen Gäste sind alle im Studentenalter, aber das ist egal, denn hier bekommt man am Sonntag wenigstens noch ein Bier gezapft. Im Hostel habe ich ein Zimmer bekommen und das gesamte Haus für mich allein.

Nachdem es langsam hell geworden ist, sehe ich aus dem Fenster und stelle fest, dass das Museum ausfällt. Es ist zwar bewölkt, aber es regnet nicht und somit steht einer Fahrt zum Nigardsbreen nichts im Wege. Ich habe mich warm angezogen, aber als mir schon beim Packen des Motorrades langsam warm wird, wundere ich mich nicht, als die Temperaturanzeige am Motorrad dann 17 Grad anzeigt. Es ist war erst 10 Uhr, aber da ich zu einem Gletscher fahren werde, wird es mit der Kleidung schon passen. Auf langsam immer trockener werdenden Straßen geht es auf den letzten 40 km immer entlang eines milchig-grünen, an Stromschnellen zuweilen auch schäumenden Gebirgsflusses entlang.

Die letzten knapp 4 Kilometer sind mautpflichtig. An einer mit Kamera überwachten Schranke überlege ich kurz, ob ich die für Pkw und Motorräder wieder gleiche Maut in Höhe von 80 Kronen "umfahren" soll, denn den Gletscher kann ich schon sehen und sogar mehr als gestern beim Brigardsbreen, entschließe mich dann aber zu bezahlen.

Entlang der Straße fließt der vom Gletscher kommende Bach. Die Farbe des Wassers hat mittlerweile von einem hellen zu einem dunklen Mintgrün gewechselt. Für mich als Norddeutschen ist mintgrün nicht unbedingt die Flussfarbe mit der ich groß geworden bin, in der Alpenregion ist sie hingegen des Öfteren anzutreffen. Am Ende des Weges mündet der Bach in einen See und die Straße an einem Parkplatz.

An einem Bootsanleger liegt ein kleines Motorboot aus Edelstahl, aber ein Bootsführer ist nirgends zu sehen. Allerdings habe ich auch gar nicht vor mit dem Boot zu fahren, denn ein Wanderweg führt über glatte Felsen, kleinere Abhänge, die über angebrachte Leitern gut zu besteigen sind und kleineren Wasserläufen am Ufer entlang zum Gletscher. Nach ungefähr 25 Minuten komme ich an einem weiteren Bootsanleger, der offensichtlichen Endstation an. Da ich aber noch relativ weit vom Gletscher entfernt bin, ja ihn noch nicht einmal richtig sehen kann, da er hinter einer Biegung verschwindet, frage ich mich kurz, welcher Tourist sich wohl auf diesen Nepp einlässt. Stetig bergauf geht es weiter über glatte Felsen, die aber selbst in meinen Motorradstiefel gut zu bewältigen sind. Apropos. Die Temperaturen haben sich seit meiner Abfahrt in Sogndal nicht groß verändert und so komme ich langsam ins Schwitzen. Immer weiter nähere ich mich dem blauen Eis des Gletschers. Links von mir rauscht in einer tieferen Spalte das Gletscherwasser Richtung See und komme ich an einer Tafel vorbei auf der die Entwicklung des Gletscher in den letzten ca. 250 Jahren dargestellt wird.

Vielleicht stammt der Bootsanleger noch aus der Zeit von 1950, da war der Gletscher noch größer und da musste man anschließend nicht mehr so weit wandern. Wenige Meter weiter und nach fast einer Stunde ist dann allerdings für mich Schluss. In Motorradbekleidung und ohne Bergsteigerausrüstung ist der weitere Weg zu steil. Ich setze mich auf ein kleines Felspodest nahe des ins Tal fließenden Wasserfalles und genieße diesen erhabenen Augenblick. Vor mir zum Greifen nah das blaue jahrtausende alte Eis. Immer wieder spritzten mir Wassertropfen und weht mir ein von oben kommender starker Wind ins Gesicht. Mal führt er die kalte Luft des Eises, mal einen warmen Luftstrom mit sich. Ich gebe zu, dass ich ihn gerne einmal berührt hätte, aber da die kleine Hängebrücke weiter unten bereits abgebaut worden ist und nur noch der aus Stahlseilen tragende Teil vorhanden ist, werde ich auch auf der anderen Seite des Wasserfalls nicht zu diesem ungeheuerlichen Naturereignisses gelangen können. Ich mache mich auf den Rückweg. Nach knapp drei Stunden passiere ich die Schranke, drehe mich noch einmal um und werfe einen letzten Blick auf einem Teil des größten Gletschers auf dem europäischen Festland, auf das nicht mehr ewigen Eis.

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