Umwege sind Wege zum Ziel

Albanien: Ich werde einen Tag mehr haben in Albanien, da die angedachte Fährverbindung nicht passt. Ich werde den Tag nutzen und entspannt durch die Gegend fahren.
Zuvor aber fahre ich von Himare über Sarande, nach Butrint und besichtige die Reste der alten griechischen und später römischen Stadt, die im Mittelalter durch ein Erdbeben zerstört worden ist aber erst Anfang des 20. Jahrhundert gänzlich verlassen wurde. Von Butrint aus setzte ich mit der Fähre über und fahre weiter zum "Blauen Auge" einer Unterwasserquelle. Vor Erreichen der Quelle muss ich 1 € bezahlen, fahre über eine kleine Staumauer eines faulig stinkenden Stausee und die letzten 2 km über eine Schotterpiste. Dort wo das Quellwasser unterirdisch hervorsprudelt erscheint es als große blaue Stelle im ansonsten durch Wasserpflanzen grün schimmernden kleinen Sees. Wofür man nicht alles Eintritt verlangen kann. In Gjirokaster übernachte ich.
Als ich dann übersetzte, funktionierte die Kamera nicht.
"Blaues Auge"
Den zusätzlichen Tag nutzte ich dann für eine Fahrt nach Permet, keine 40 km von der griechischen Grenze entfernt. In dieser mehr oder weniger hintersten Ecke von Albanien wird der Straßenverlauf noch mehr durch die geografischen Verhältnisse bestimmt, was heißt, dass es weitestgehend keine Querverbindungen zwischen den Straßen gibt und auch nicht geben kann, außer Albanien hätte das Geld für Kilometer lange Tunnel. Die Straßen folgen nicht selten einem Flusslauf, gesäumt von unglaublich steilen und hohen Gebirgen. Eine fast einsam wirkende Gegend bis ich in Permet ankomme. Hier ist der sozialistische Baustil, wenn es den überhaupt gibt, noch ausgeprägter und am kleinen Hauptplatz mache ich eine kleine Pause gleich neben dem Gebäudekomplex der sozialistischen Partei.
Es gibt heute für mich kein besonderes Ziel außer, dass ich abends in Vlorä sein will, weil von dort am nächsten Tag meine Fähre abfährt. Ich möchte die Zeit nutzen und noch einmal ein paar Eindrücke von Albanien mitnehmen.
Auf der Fahrt zu meiner Unterkunft führt mich mein Navi über Nebenstraßen und dann über Schotterstraßen mehr oder weniger von hinten nach Vlorä. Ich komme durch einen unglaublich dreckigen Vorort, fast möchte ich sagen den Slums. Vorbei an einstöckigen Häuschen mit Blechdach, die den Eindruck vermitteln, als fehle es an fließendem Wasser und mehr, überquere ich einen höher gelegenen alten, eingleisigen Bahndamm. Zwischen die Gleise hat man ein paar Ladungen Schotter gekippt, damit man die Gleise überqueren kann. Diese „Straße“ ist tatsächlich im Navi als Straße ausgewiesen, war früher aber nie ein wirklicher Bahnübergang. Manchmal frage ich mich, ob die Software so etwas wie eine Art Lächelerkennung für Straßen hat. Weiter geht es vorbei an stinkenden kleineren und größeren Müllhaufen und was man sonst noch so in die Gegend kippen kann. Überall fliegt Müll herum, hängt Plastik in verrostetem Stacheldraht an verwilderten Grundstücken auf denen die Reste verfallener Häuschen stehen. Die Unterkunft soll hier irgendwo sein. Da mir die Hausnummer von booking.com nicht übermittelt worden war und ich zudem Probleme mit dem Internet habe, hatte ich nur die Straße in mein Navi eingegeben. Insgeheim hoffe ich auf einen Verwaltungsfehler auf der Seite von booking.com damit ich ohne Stornierungskosten ein anderes Hotel suchen kann, denn freiwillig wäre ich in diese Gegend nicht gefahren. Und dann soll ich hier noch übernachten??
Ich fahre aus der Straße raus und komme auf eine Art Strandallee. Mehrstöckige Gebäuden trennen mich vom Strand. Zwischen den Gebäuden führen Wege zum Strand die den Eindruck vermitteln, als handele es sich um eine Baustelle und man hat nur vergessen die Straßen fertigzustellen. Ich gehe auf einem dieser Wege um mir ein Bild vom Strand machen zu können und drehe gleich wieder um, denn selbst ein ausgeliehenes Handtuch würde ich hier nicht hinlegen.
Aber Strandlage
Irgendwie finde ich dann die Straße und auch das blau gestrichene Haus von dem es bei booking ein Foto gibt. Die Umgebung ist, nachdem was ich vorher gesehen hatte okay, trotzdem sind die Müllhaufen nicht weit weg, aber man riecht sie nicht. Das Appartement für 16€ ist dann aber okay.
Ich gehe zur fußläufig etwa 20 Minuten entfernten Promenade. 2 Stunden zuvor war hier noch nichts los, nun aber steppt der Bär. Menschen wohin man schaut und verstopfte Straßen. Es wird gehupt auf Teufel komm raus und überhaupt scheint hier jeder zu fahren wie er will. An einer Kreuzung zum Beispiel, weil es nicht weitergeht, denn ein Tankwagen kann nicht weiterfahren, weil andere sich mitten im Kreuzungsbereich ohne Ampeln und Verkehrszeichen ihren eigenen Weg suchen und damit alles verstopfen. Hochachtung vor dem LKW Fahrer der es dann doch schafft.
Nur an Stellen, wo Fußgänger in größeren Mengen die Straße an einem Zebrastreifen überqueren wollen stehen Polizisten und regeln. Nicht selten, dass Fußgänger mitten auf der Straße auf einem Zebrastreifen stehen und die Autos rechts und links an ihnen vorbeifahren. Selber schuld wer stehen bleibt. Ich habe es ausprobiert. Ist man "im Fluss" dann wird auch angehalten. Ein seltsames System, dass man wohl nur versteht oder überlebt, wenn man dort aufgewachsen ist oder sich irgendwie anpasst.
Als Motorradfahrer scheine ich hier noch kleine Vorteile zu genießen, denn obwohl beim Einfahren in einen Verteilerkreis und davon gibt es auch in Albanien ein paar, "Vorfahrt achten" Schilder stehen, frage ich mich allerdings für wen die gelten. Trotz allem habe ich keinen Unfall gesehen. Die Polizei lässt jedenfalls alles so laufen nach dem vermutlichen Motto „Never change a runing system" . Wohl im wahrsten Sinn des Wortes.
Jetzt sitze ich auf der Fähre, die aufgrund verstärkter Grenzkontrollen durch die albanischen Polizei erst mit 3 Stunden Verspätung ablegt. Die Lichter in der Ferne signalisieren, dass Brindisi bald erreicht ist. Die ersten drücken sich schon am Niedergang zum Autodeck herum. Ich stelle mich mal dazu. Dem Hotel habe ich schon Bescheid gesagt dass es später werden könnte, denn noch wartet ja auch die Kontrolle.
Warten auf die Abfahrt
Ich habe mein Motorrad gleich neben der Bugklappe abstellen können und hoffe, dass ich damit fast in einer Poleposition bin. Ohne Drängeln habe ich es an die 5te Position geschafft und nicht lange und ich stehe neben meinem Motorrad. Tankrucksack drauf, Seilschloss durch Helm und Jacke herausgezogen und Jacke über die Gepäckrolle geklemmt...
Tja, Motorrad ist noch festgezurrt und ich bekomme zwei der Gurte nicht ab. Nicht schlimm, da die Bugklappe noch nicht mal ganz unten ist aber ein Sattelzug aus Albanien schon fast mit der Vorderachse drauf steht. Jeder will nur runter. Ich auch. Ich spreche also einen von der Crew an, der mehr daneben als mittendrin steht und scheinbar (noch) nichts zu tun hat. Er gibt mir durch Handzeichen zu verstehen, dass ich mich an seine Kollegen wenden solle. Das sind die Augenblicke die ich liebe, wenn man mir auf der Zielgeraden versucht ein Bein zu stellen. Er hilft mir dann doch sehr freundlich und schnell, nachdem ich ihm ebenso freundlich gesagt habe, dass es überhaupt kein Problem für mich sei, weil ich ein Taschenmesser besäße.
Als der Sattelzug über die Rampe von Bord rollt folge ich ihm, hinter mir ein leicht drängelnder Lieferwagen. Es ist 22 Uhr und dunkel. Ein paar Straßenlampen streuen ein eher diffuses Licht über den Vorplatz. Ich sehe ein offenes Tor, halte mich aber noch zurück und vertraue darauf, dass der albanische Lkw-Fahrer nicht zum ersten Mal nach Italien kommt. Tatsächlich schwenkt er auf ein anderes Tor zu, wo bereits auch eine Gruppe von Fußgängern mit ihren Rollis langlaufen.
Die Fußgänger auf der einen Seite des länglichen, niedrigen Gebäudekomplexes, fahren alle Fahrzeuge rechts vorbei. Der Sattelzug hält auf dem rechten Fahrstreifen vor der geöffneten Schranke. Der Lieferwagen hinter mir drängelt mich zur linken geöffneten Schranke. Alle Beamten scheinen sich aber um die Fußgänger kümmern zu wollen und deshalb sehe ich keinen, der etwas von mir sehen möchte. Aber vielleicht werde ich ja auch erst an der nächsten Schranke kontrolliert. Ich rolle weiter. Der Lieferwagen hinter mir hält aber an. Ich fahre weiter, komme erneut an einem Gebäudekomplex vorbei, ohne das ich auch nur einen Beamten gesehen hätte, durchfahre ein Tor, passiere erneut eine geöffnete Schranke, durchfahre einen Verteilerkreis, folge einem Verkehrszeichen mit der Aufschrift „Brindisi Center“ und bin plötzlich in der Innenstadt. Das war ja einfach.
Rechts das rötliche Haus ist das Hotel
Mein Zimmer ist so groß wie bei manchen nicht mal das Wohnzimmer und befindet sich in einem umgebauten, ansonsten aber wohl typisch italienischem älteren Haus mit Innenhof. Ich habe geduscht und bin schon wieder unterwegs Richtung Altstadt und Hafen. Unterwegs begegnen immer mehr aufgebrezelte junge Menschen und man könnte meinen sie seien auf dem Weg zu einer Party oder Hochzeit. Als ich um die Ecke einer kleinen Seitenstraße komme, eröffnet sich mir ein Platz etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld und ist umgeben von 2 bis 3 stöckigen Altstadtgebäuden. In der Mitte, fast die Hälfte des Platzes überspannend, ein Dach. Wo sonst Marktstände aufgebaut sind, stehen nun fast gänzlich besetzte Tische der umliegenden Restaurants und Bars.
Ich gehe weiter und treffe auf Absperrgitter und Verkehrspolizisten, die aber nur herumstehen und sich unterhalten. Die Absperrungen stellen sicher, dass sämtlich Straßen im näheren Umkreis frei sind von Kraftfahrzeugen, denn es ist ein Menschenauftrieb wie ich ihn um 23 Uhr selten gesehen habe.
Hinsichtlich des Altersdurchschnitts habe ich den Eindruck, als seien alle Schüler und Studenten aus Brindisi mit ihren Lehrkräften und Professoren anwesend, wobei die meisten älteren Professoren offenbar Zuhause geblieben sind. Allerdings würden wohl nur wenige in einem solchen Outfit zur Schule oder Uni gehen.
Nun ist Italien ja bekannt für ausgefallene und feine Mode. Insbesondere Frauen pflegen eine gewisse Kleidungsnote. Hier treffe ich bei den jungen Leuten auf einen ähnlichen Stil, der so gar nicht zum Bild des vorherigen Abends in Vlorä passt. Manche Frau trägt allerdings ein Outfit, das im Verdacht steht Waffenscheinpflichtig sein zu können und ich frage mich, wie man damit sitzen kann.
Vor einer Kneipe, hat man einen Fernseher aufgebaut, es läuft ein Fußballspiel, und ein DJ sorgt für die musikalische Untermalung mit lautstarker Discomusik. Ich kann einen Platz ergattern und sehe mir mit Genuss dieses Treiben an, in dem ich auch einige Paradiesvögel al a "Conchita Wurst" ausmache. Fast wie bei ARD und ZDF. "in der ersten Reihe".
Es geht bereits auf Mitternacht zu und langsam wird es auf den Straßen ruhiger und werden die bereits nicht mehr besetzten Tische und Stühle auf dem Marktplatz wieder hereingeholt. Immer noch getragen von der Faszination dieses Abends komme ich auf dem Weg zu meiner Unterkunft an einer kleinen Brauerei mit Ausschank vorbei. Bei einem Absackerbier stelle ich erneut fest, wie unterschiedlich doch der vorherige und der jetzige Abend ist.
Am nächsten Morgen wird auf der Zufahrt zum Terminal meine Temperatur gemessen, das war es dann aber auch schon. Es ist deutlich mehr los als am Tag zuvor in Albanien und schnell wird klar, dass „Social Distance“ nicht angesagt sein wird. Am Terminal erhalte ich mein Ticket und wird lediglich überprüft, ob das Datum in der „Passenger Locator Form“ mit meinem Abreisedatum übereinstimmt.
Zwischen den rangierenden Lkws hindurch werde ich dann auf die Fähre gelotst und stelle mein Motorrad abermals in der Nähe der Bugklappe ab. Didier (65) aus Paris, mit dem ich später noch eine kurzweilige Überfahrt haben werde, stellt sein Motorrad daneben. Den Rest übernimmt die Crew. Mit einen "wenn-das-mal gut-geht"-Gefühl gehe ich zum Passagierdeck.
Als ich im Restaurant wenig später die stetig steigende Zahl der Passiere und das Gedränge vor der Speisenausgabe sehe, setze ich meine Maske auf und suche mir ein ruhigeres Plätzchen....