Es ist Mitte September, vier Wochen nachdem in Irkutsk die ersten Birkenblätter fielen beginnt auch hier langsam das Laub der Birken gelblich zu werden.
Hier wunderbares Herbstwetter und es soll die nächsten Tage so bleiben, in Sibirien, in Krasnojarsk, Nowosibirsk und Tomsk hingegen sagt der Wetterbericht Tageshöchsttemperaturen von 10-11 Grad und überwiegend Regen voraus. Ich hatte es irgendwie befürchtet.
Es wird Zeit, dass ich wieder aus dem Getrieben-Modus der letzten Tage herauskomme und wieder in einen Reise-Modus gelange, denn der ist im wahrsten Sinn des Wortes seit dem Baikalsee auf der Strecke geblieben. Seit Irkutsk fühle ich mich ein wenig wie auf der Flucht, gilt es doch unglaubliche Entfernungen zurückzulegen ausschließlich aus dem Grund sie zurücklegen zu müssen.
Der erste Unterschied zwischen Asien und Europa fiel mir übrigens beim nächsten Tanken auf, denn es wird überwiegend wieder getankt wie bei uns. Pistole rein. Tanken. Bezahlen. In Kirgistan, Kasachstan und der Mongolei bezahlte man aber vor dem Tanken. Was aber heißt 95 oder 92 auf kasachisch, kirgisisch oder mongolisch oder wie erklärt man, dass man volltanken will aber ja noch nicht weiß wieviel Liter und was es dann kosten wird. Natürlich kann man schätzen, aber später fehlen dann vielleicht genau die 3 Liter die noch hineingepasst hätten. Im Grunde war es bis dato auch in Russland so, jedoch habe ich in Russland vor dem Tanken erst die Zapfsäule mit Angabe der Säulennummer, der gewünschten Qualität. der zu tankenden Menge und/oder den Geldbetrag den man bereit ist zu bezahlen an der Kasse freischalten lassen müssen, womit im Grunde auch hier das gleiche Problem bestand. Nach mehrmaligen hin und her bin ich irgendwann dazu übergegangen an der Zapfsäule schon mal die Zapfpistole der entsprechenden Qualität in die Tanköffnung zu stecken. Sollte man mein Motorrad von der Kasse aus oder auf einem der Monitore sehen, wenn nicht helfen die Finger oder "ras", "dva" oder "tri", dann hat sich anschließend die Handbewegung des „Hals-abschneiden“ in Höhe des Kinns bewährt. Dann nur noch einen entsprechend großen Geldschein auf den Tresen legen oder überreichen, am besten noch verständnisvoll nicken und in 99,9 % der Fälle war dann alles klar.
Ein weiterer Unterschied fällt mir dann während meiner Stadtbummel auf. Fußgänger haben im asiatischen Teil an Kreuzungen mit Ampeln bei "Grün" die gesamte Kreuzung für sich allein. Kein abbiegendes Fahrzeug kommt ihnen dazwischen. Das sah anfangs zum Beispiel in Bishkek ungewohnt aus, als größere Menschenmengen im Bereich des Basars auch einen quer über die Kreuzung führenden Fußgängerüberweg nutzten. Jetzt im europäischen Teil Russlands ist es wieder so wie bei uns, Fußgänger überqueren die Kreuzung in gleicher Richtung mit den Fahrzeugen. Ich persönlich halte die asiatische Variante als durchaus nachahmenswert, da Abbiegeunfälle im Grunde nicht passieren können. Ein weiterer Unterschied im Straßenverkehr ist, dass seit dem Ural Gebirge wieder gelegentlich lateinische Schrift auf Ortshinweisschildern zu sehen ist.
Ich verlasse Izhevsk, wo ich zwischen Perm und Kasan etwas luxuriös im einem kleinen 5 Sterne "Park-Hotel" gechillt und übernachtet, aber die Stadt selbst nicht besichtigt hatte, bei frischen 11/12 Grad. Ich bin froh nach 5 Stunden im Hotel in Kasan anzukommen und erstmal unter die warme Dusche springen zu können. Danach geht´s erstmal, aber vor allem in die City. Im Hotel hatte ich erfahren, dass das unterirdische Kasan zur Zeit leider nicht zugänglich sei und so nehme ich für das oberirdische Kasan, für einen ersten Überblick, an einer etwa 90 minütigen Stadtrundfahrt teil. Die Informationen die ich in deutscher Sprache aus den billigen Kopfhörern erhalte sind so umfangreich mit Zahlen und Namen gespickt, dass die ersten Informationen schon bald wieder vergessen sind und die letzten gar nicht mehr erst aufgenommen werden. Ich weiß anschließend nur, dass morgen die Sonne scheinen soll und vor mir eine Stadt liegen wird, die alles bisherige in den Schatten stellt. Ich werde um eine Nacht verlängern.
Bestes T-Shirt Wetter, blauer Himmel, Sonnenschein. Anfang September quasi goldener Oktober. Vergessen sind die kalten Hände von gestern. So kann es mit der Laune wieder aufwärts gehen zumal morgens um halb 10 auch noch nicht so viele Touristen unterwegs sind. Die Verlängerungsnacht ist gebucht, ich kann es also langsam angehen lassen. Heute in Ruhe überwiegend das ablaufen was der Bus gestern abgefahren ist und morgen dann mehr an die Wolga, zu einem sehr speziellen "Tempel aller Religionen" der keine Kirche im eigentlichen Sinn ist, sondern ein Kunstprojekt zweier Brüder und auf die Museumsinsel Swijaschsk. Dort treffe ich Hugo, ein Biker aus Ecuador, der seit 10 Jahren an der Uni von Kasan arbeitet. Ich erfahre von ihm warum sowohl Google als auch maps.me in den letzten Tagen erhebliche Probleme hatten meinen Standort festzustellen bzw. einigermaßen zufriedenstellend zu routen. Er habe zwischenzeitlich ähnliche Probleme, schildert er mir. Soweit ich ihn verstanden habe, ohne fachliche Kenntnisse diesbezüglich zu haben, sollen bewusste Störungen der Grund dafür sein. Kasan sei ein großer Wirtschaftsstandort und zudem werden dort Hubschrauber hergestellt.
"Tempel aller Religionen"



Hugo aus Ecuador
Swijaschsk

Kasan, dass sich offiziell 3. Hauptstadt Russlands nennen darf und Hauptstadt der islamisch geprägten Republik Tatarstan ist, wurde 1552 von "Ivan dem Schrecklichen" erobert. Wegen der Koexistenz zwischen islamischer und russisch-orthodoxer Religion wird Kasan auch "Istanbul an der Wolga" genannt, womit sich auch erklärt, worüber ich anfangs etwas irritiert war, warum ich einen Muezzin zum Gebet rufen hörte. Als erstes geht’s zum Kasaner Kreml. Nach der Eroberung errichtet vereint er heute verschiedene Elemente der islamischen und der christlich-orthodoxen Architektur. Der Kreml ist so groß und abwechslungsreich, dass ich erst gar nicht weiß was ich zuerst fotografieren soll. Das Tatarstan-Viertel ist neben dem Kreml touristisch gesehen ein absolutes "must-see", aber um diese Jahreszeit ist alles gut überschaubar. Ein spürbarer Hauch einer orientalischen Welt durchzieht das Viertel. Auffällig sind die schräg zur Straße stehenden Häuser, da sie entgegen des Straßenplans nach Mekka ausgerichtet worden sind. Musik weckt mein Interesse und ich komme zu einer Bühne auf der die Jüdische Gemeinde von Kasan ihr 13. Musikfestival feiert. Für mich eine gute Gelegenheit nach 5 Stunden auf den Füßen, diese sich bei interessanter Musik entspannen zu lassen und ist darüber hinaus ein gelungener Tagesabschluss.
Kasaner Kreml


Tatarstan-Viertel
Palast der Landwirtschaft in neoklassizistischer Bauweise

Nischni Novgorod, wieder eine Großstadt in der ich aber nur übernachten und vielleicht noch etwas bummeln möchte. Entsprechend meines Credos genau hinsehen zu wollen wo ich das tue, manchmal hilft auch Streetview, buche ich, wegen des Bummelns, wie immer nahe des Stadtkerns. Als ich das Gebäude meines Hotels finde ist es zu 100% von einer aufgerissenen Straße umgeben, Zugang nur über einen schmalen, überdachten Behelfsweg aus Holzplanken. Ich frage mich, warum ich eigentlich nicht am Stadtrand buche wenn ich nur übernachten will. Weil ich sonst bei einem Bummel nicht zufällig in einer Art Pub landen würde, wo ich zwar mit Abstand der Älteste bin, aber etwas zu essen und zu trinken bekomme und wo wenig später eine junge Frau ihre Gitarre herausholt.


Es dauert fast eine Stunde bis ich eingecheckt habe. Das Haus hat zwei Seiteneingänge. Ich klingle am falschen. Es ist ein privates Kunstmuseum. Die richtige ist verschlossen und auf Klingeln öffnet niemand. Die Inhaberin des Museums hilft weiter und telefoniert mit dem Hotelbesitzer während ich schon an Alternativen denke. Dann bekomme ich einen Türcode und die Zimmernummer mitgeteilt und wenig später stehe ich dann endlich in meinem 74 qm großen „Zimmer“ mit hohen Stuckdecken in dem aus einem Salon das Schlafzimmer und Badezimmer !! abgehen. Das Motorrad habe ich an der nächsten Straßenecke vor einem Restaurant abstellen müssen. So wie es mittlerweile aussieht wird es da morgen auch noch stehen. Es passte gerade so über den Weg aus Holzplanken und so habe ich mir eine etwas weiträumigere Umfahrung erspart.
Die Sonne steht schon ziemlich tief als ich loskomme. Nicht weit entfernt befindet sich der Kreml von Nischni Novgorod Ich bin nicht der einzige der hier bei einem weiten Blick über die Wolga den Sonnenuntergang genießt. Der illuminierte Kreml und auch die unmittelbare Umgebung stehen dem Kreml in Kasan in nichts nach. Darum übernachte ich nicht irgendwo, auch wenn es manchmal nicht leicht ist hinzukommen.




