Bei Istanbul Europa verlassen, kurz hinter Jekaterinburg wieder zurück. Dazwischen liegen Erlebnisse, Erfahrungen, Begegnungen, Abenteuer und sehr viele Kilometer.
Was einmal als eine Reise in einem Stück geplant war, aber durch unterschiedliche Umstände bzw. Ereignisse mehrmals unterbrochen werden musste, findet nun bald seinen Abschluss. Mit Erreichen des Ural Gebirges erreiche ich einen Punkt, den ich 2020 schon habe erreichen wollen, Corona mir aber einen Strich durch die Rechnung machte. Durch die unterschiedlichen Unterbrechungen entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Ost-Erweiterung meiner damaligen Europa-Tour. Ich habe schon heute zurückblickend das große Glück gehabt eine Reise machen zu dürfen, die so fast nicht mehr hätte gemacht werden können. Aber noch ist die Reise nicht zu Ende, liegen noch etwa 3 Wochen Fahrt und mindestens 5000 Kilometer vor mir.
Abgesehen einmal davon, dass ich in den letzten Tagen gelegentliche Anzeichen einer gewissen Reise-Müdigkeit und zusehends auch meinen Körper gespürt habe, macht sich auch beim Material langsam eine Ermüdung bemerkbar. Beide Koffer sind nicht mehr ganz dicht und auch im rechten Stiefel bekomme ich jetzt öfter einen feuchten Strumpf. Mit behelfsmäßigem Abdichten versuche ich ein weiteres Eindringen in die Koffer zu verhindern und durch gelegentliches Lüften, so weit es unterwegs oder vor einem Hotel überhaupt möglich ist, einem sich langsam entwickelnden Biotop entgegenzuwirken. Alles was ich mehr oder weniger täglich benötige sowie empfindliche Sachen habe ich im Tankrucksack und in der Gepäckrolle untergebracht und bleiben daher nicht über Nacht am Motorrad. Da ich immer mehr Bekleidung am Körper trage wird es in den Koffern auch zusehends leerer. Den Rest könnte ich also bald auch in eine Plastiktüte stecken und so ein wenig schützen. Eine Erkenntnis dieser Tatsache ist, dass ich "beim nächsten Mal" komplett auf so genanntes Softgepäck umsteigen würde, denn die Gepäckrolle ist absolut dicht und vor allem wäre es leichter. Manchmal muss man seine Erfahrungen eben selbst machen.
Irbit wäre damals der östlichste Ort gewesen den ich habe erreichen wollen, weil sich dort das "Irbitski Motozikletny Sawod" kurz IMZ befindet, das die legendären Ural Motorräder herstellt. Der Urvater dieser Motorräder ist die BMW R 71. Auf der Suche nach einem geeigneten Motorrad für die sowjetische Armee besorgte man sich unter Stalin ein paar BMW R 71, zerlegte sie und baute sie dann nach. Eine Besichtigung des Werkes wäre schön gewesen und so muss ich mich mit dem angrenzenden Museum zufrieden geben.
Vor dem "Ural"-Werk
Jekaterinburg. Am Uralgebirge gelegen. Eine Millionenstadt. Die viertgrößte Stadt in Russland. Nicht schon wieder, denke ich als die ersten Wohnhaussilos an der Peripherie erscheinen und sich auch der Verkehr einer Millionenstadt über jeden Zweifel erhaben gibt, obwohl Hupen in Russland offenbar nicht zum guten Ton gehört.


"Wäre, wäre, Fahrradlenker", wie Lothar M. einst un-sinniger Weise meinte, aber jetzt gilt es erstmal das Hotel zu finden. Google und Maps.me fanden es jedenfalls nicht. Nicht sofort. Gut, dass es auf der Buchungs-App eine Außenansicht gibt, dann wird das Finden in einer Millionenstadt ja zum Kinderspiel. Letztendlich ist es kein 3-Sterne-Hotel im eigentlichen Sinn sondern mehr eine 3-Sterne-Wohnung in einem Wohnhaus. Eines mit einem historischen Hintergrund, denn von 1972-1977 hat Boris Jelzin in diesem Haus gewohnt und ist er ganz in der Nähe auch geboren. Grund genug ihm in Jekaterinburg auch ein Museum zu errichten.
Boris Jelzin Museum

Ich habe prinzipiell nichts gegen ein Hostel, wenn es von außen gut zu erkennen ist und die Ortsangaben stimmen. Manchmal ist genau das aber ein Problem und deshalb sind mir vor dem Buchen Außenansichten und Parkmöglichkeiten einer Unterkunft sehr wichtig, weil es mit der Übersetzung mancher Hinweisschilder auch nicht immer klappt. Eine Wohnung in einem mehrstöckigen Haus erspare ich mir daher am liebsten. Es dauert etwas bis ich die richtige Klingel gefunden habe und etwas bis man mir öffnet. Ich bin schon mal im Haus. Eine Hausbewohnerin betritt den Eingangsbereich. Sie zeigt mir im Erdgeschoss die richtige Wohnungstür. Klingeln, warten, warten, klingeln, dann stehe ich im Flur. Schick sieht es aus, wie auf den Bildern im Internet, wenngleich auch etwas beengter als ich mir vorgestellt hatte. An der Wand ein Bildschirm auf dem zu gleichen Teilen ich selbst und das Foto einer Frau zu sehen ist. Eine schlecht englisch sprechende Stimme aus dem Orbit. Erwartungshaltung und Realität treffen aufeinander. Eine Situation die ich nicht haben wollte. So muss für einen Besucher mancherorts eine Personenkontrolle im Gefängnis sein. Dann doch lieber einen Schlüsselsafe an der Haustür.



Irgendwann stehe ich in meinem Zimmer, dusche und brauche anschließend erst einmal frische Luft denn morgen soll es schon wieder regnen. Schon nach wenigen hundert Metern wird klar, ein "Nicht schon wieder" wird es so nicht geben. Die Stadt oder besser der Stadtkern ist zwar quirlig und modern aber zuweilen auch pittoresk. Ich möchte fast sagen, dass von allen Städten die ich bis dato auf meiner Reise in Russland gesehen habe mir Jekaterinburg auf den zweiten Blick am besten gefällt, mag sein, dass ich beginne mich auch daran zu gewöhnen.



Besonders beeindruckend finde ich den Bereich um die durch die Stadt fließende Isset und die nicht weit entfernte Kirche "Auf dem Blut" oder auch "Blutskirche" genannt. Eine Anfang 2000 erbaute Kirche zu Ehren der gesamten 1918 ermordeten Zarenfamilie der Romanows und zwar genau dort wo bis 1977 das Haus stand in dem die Morde geschahen.



Das Frühstück ist fast genauso umständlich zu bekommen wie es beim Einchecken schon war, aber irgendwann finde ich in einen Kühlschrank, der nett versteckt in einem alten Eckschrank untergebracht ist, eine vorbereitete Tüte. Die Dame aus dem Orbit brauchte eine gewisse Zeit um ihrerseits offenbar in einer Übersetzer-App die entsprechenden Begrifflichkeiten zu finden.
Gut das am Kleiderständer im Flur ein Herrenschirm hängt. Ein Merino T-Shirt zusätzlich angezogen, Schirm genommen und dann ab zum "Boris-Jelzin-Museum". Was soll man auch machen an einem regnerischen Samstag in einer fremden Stadt. Den 1,5 Kilometer entfernten historischen Bahnhof werde ich mir erst nachmittags ansehen können wenn es aufgehört hat zu regnen. So brauche ich morgen auf dem Weg nach Perm dort nicht mehr vorbeifahren.

Was mich schon bei der Planung meiner Reise für 2020 an Perm, einer Millionenstadt die bestimmt ihre Reize hat und in der ich auch übernachten werde, im Grunde interessierte ist nicht Perm selbst, sondern Perm-36. Perm-36 steht für ein Gulag, steht für viele Gulags in denen in stalinistischer Zeit Millionen Menschen inhaftiert, gefoltert und zu Tode gekommen sind und steht für den Inbegriff dessen wie man mit der Vergangenheit versuchte umzugehen aber heute umgeht. Bei meinen Planungen für meine Reise in 2020 erfuhr ich von Workuta als eine der nördlichsten Städte Europas im Norden des Ural gelegen, aber nur auf 1000 km Schiene erreichbar. Auch Workuta war mal ein Gulag, waren unter anderem auch tausende deutscher Kriegsgefangener dorthin deportiert worden. Man sagt, dass unter jeder Schienenschwelle dieser etwa 1000 km zwei Tote lägen, denn mindestens so viele Menschen seien allein um das spätere Gulag Workuta errichten zu können beim Bau der Eisenbahn dorthin unter unmenschlichsten Umständen gestorben. Bei meinen damaligen Recherchen "stolperte" ich dann über "Perm-36" und hoffte, wenn Workuta schon nicht erreicht werden könnte, zumal es heute eine große Stadt und bei weitem kein ansatzweise noch vorhandenen Bereich eines Gulags geben dürfte, dort vielleicht ein wenig mehr zu erfahren. Leider habe ich lesen müssen, dass Perm-36 als überhaupt einzige Erinnerungsstätte 2014 entprivatisiert worden ist und seit dem vom Staat geführt wird. Es ist mir dennoch einen Besuch und erst recht diesen Umweg wert. Im Hostel komme ich mit einem englischen sprechenden jungen Mann aus Perm ins Gespräch der mir verrät, dass die Museen am Montag geschlossen seien. Ein guter Tipp, denn Morgen ist Sonntag und so werde ich das Museum auf der Hinfahrt nach Perm besuchen. Das wiederum ist im Grunde, neben einer günstigen Übernachtung, der Vorteil eines Hostels und ähnlich wie bei Busfahrern oder Gassi Gehenden. Man kennt sich eigentlich nicht aber es gibt etwas das einen verbindet und so grüßt man sich oder kommt bestenfalls schon mal ins Gespräch. Und manchmal erfährt man Dinge, die einem auch wirklich weiterhelfen. Wie in Duschanbe / Tadschikistan als ich erfuhr, dass die Grenze nach Kirgisistan seit 2 Wochen nur für Touristen geöffnet sei.
Sergey heißt mein Guide im Perm-36. Mit seinen paar Brocken Englisch bekomme ich einen ganz kleinen Eindruck in das damalige Lagerleben. Er schildert teilweise Ereignisse als habe er sie am eigenen Leib erfahren und einmal laufen ihm dann auch Tränen die Wangen herunter und ich bin mir für einen kurzen Augenblick nicht mehr sicher ob er es nicht wirklich hat.




